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POLONICA
Polnische Literatur in Deutschland 1990 - 2000

Ein Ort überall und nirgends

Olga Tokarczuk: UR UND ANDERE ZEITEN. [Prawiek in inne czasy]. Roman. Übersetzt von Esther Kinsky. Berlin-Verlag, Berlin 2000.

"Ur ist ein Ort mitten im Weltall", beginnt der dritte Roman der jungen polnischen Autorin, die zu den interessantesten Entdeckungen der letzten Jahre gehört. In Polen mit dem renommierten Nike-Preis ausgezeichnet, verdient dieses Buch auch die Aufmerksamkeit der deutschen Leser. Olga Tokarczuk (geb. 1962) nimmt uns mit auf eine Reise durch die Geschichte Polens im letzten Jahrhundert, doch ist dieses Buch alles andere als ein historischer Roman, es ist nicht einmal ein Roman im klassischen Sinne. Es ist ein eigenartiges Märchen, das in der Sprache seiner Gattung außerhalb von Zeit und Ort spielt. Wer darin nach einer Auseinandersetzung mit den wichtigsten Ereignissen der letzten hundert Jahre - den beiden Weltkriegen - sucht, der sucht vergeblich. Gewiß können diese Katastrophen an den Einwohnern des imaginären ostpolnischen Dorfes nicht vorbeigehen. Doch viel wichtiger sind "die Geschichten von Liebe und Haß, Glück und Leid, Geburt und Tod", wie es der Umschlagtext formuliert. Allgemeine Fragen, die sich unmittelbar auf die menschliche Existenz beziehen, machen UR UND ANDERE ZEITEN jedem zugänglich.
Trotzdem bleibt die Erzählung ausgesprochen polnisch, wobei eine Definition des ‚Polnischen' freilich schwer zu geben ist. In kurzen Kapiteln, die immer von der Zeit der Menschen, der vierfachen und anderen Dinge und Undinge, der Toten und des Spiels erzählen, stellt die Autorin unterschiedlichste, manchmal merkwürdige Gestalten vor und läßt an deren Leben die geschichtsträchtigen oder ‚nur' Ur-alten Ereignisse vorbeiziehen.
Da ist die junge schwangere Genowefa, der bei dem Wort "Insektenpulver" plötzlich schlecht wird, weil es sie "an das Gas, das die Deutschen benutzten und von dem die Augen platzten" erinnert. Da ist ein namenloser Böser Mann, der "bereits vor dem Krieg in den Wäldern von Ur aufgetaucht" ist und sich wie ein Werwolf in ein wildes Ungeheuer verwandelt. Da ist die Ähre, die in Ur einen Ort entdeckt, an dem "die Materie sich selbst erschafft" und der eines Tages "an eine andere Stelle gewandert war". Da erscheinen Engel, als wären sie ganz natürliche Protagonisten eines literarischen Textes: "Der Engel sah Misias Geburt in einem ganz anderen Licht als die Hebamme Kucmerka. Ein Engel sieht die Dinge überhaupt anders. Engel sehen die Welt nicht in ihrer sichtbaren Gestalt, die immer wieder entsteht und sich selbst zerstört, sondern in ihrem Wesen und in ihrer Seele".
Olga Tokarczuk entdeckt hier zugleich eine neue, märchenhafte Art zu philosophieren. Ihre Sprache ist wie ein tiefer Brunnen, in den der Leser freiwillig fällt, um in das klare, durstlöschende Wasser der Worte langsam und immer tiefer einzutauchen. Das Buch ist ein Genuß nicht nur für Märchen- und Romanliebhaber oder Polenbegeisterte, sondern empfiehlt sich jedem, der einfach Gefallen an guter Literatur findet.

 

 

 

Olga Tokarczuk
"Ur und andere Zeiten"


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