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POLONICA
Polnische Literatur in Deutschland 1990 - 2000

 

Der Hunger nach Leben

Halina Poswiatowska: ERZÄHLUNG FÜR EINEN FREUND. [Opowiesc dla przyjaciela]. Roman. Übersetzung von Monika Cagliesi-Zenkteler. Piper, München/Zürich 2000.

"Ich werde reden, mein Freund. Am liebsten würde ich schweigen, aber Schweigen ist keine Lösung, Schweigen klärt nichts", so fängt der Roman von Halina Poswiatowska (1935-1967) an, den sie in Form eines Tagebuchs geschrieben hat. Dem Freund, an den sie ihre Worte richtet, erklärt sie: "Ich will unsere Vergangenheit herbeirufen, unsere gemeinsame Vergangenheit, ich will, daß du auf diesen Blättern, die sich noch weiß vor mir auftürmen, das Klopfen meines lebendigen Herzens wiederfindest". Nein, es ist keine Liebeserklärung - auch , wenn das Hauptwerk Poswiatowskas fast ausschließlich der Liebe gewidmet ist -, sondern eine Anspielung auf die gesundheitlichen Probleme Poswiatowskas.
Die ERZÄHLUNG FÜR EINEN FREUND ist ein im höchsten Maße autobiographisches Werk, in dem die Autorin eine Art Selbstverteidigung betreibt. Warum? Das kommt im Laufe der Erzählung zum Vorschein. Poswiatowska, die eigentlich Lyrikerin war, lebt seit ihrer Kindheit mit einem schweren Herzfehler. Bei einer Lesung ihrer Gedichte lernt sie einen Blinden kennen, der zu ihrem engsten Freund wird. Durch das Engagement eines Arztes und der in den USA lebenden Polen gelingt es ihr, eine Operation am offenen Herzen zu finanzieren. Auch in der "Neuen Welt" trennt sie sich nicht von ihrer Lyrik, die stets das Thema Herz umkreist: "Von Krankenhaus zu Krankenhaus transportiere ich meine Tinte in der Hand". Als es ihr besser geht, entschließt sie sich, auf eigene Faust in Amerika zu bleiben und dort zu studieren. Es ist keine Flucht aus Polen, kein Bedürfnis nach Emigration, sondern ein starker Lebenshunger, den sie erst jetzt nach der gelungenen Operation stillen kann.
Ihr starker Wille hilft ihr in den schwierigen ersten Monaten, in denen sie gleichzeitig Philosophie studieren und englisch lernen muß, den Mut und den Fleiß nicht zu verlieren: "Mein Tag war aufgeteilt in Vorlesungen und einsames Brüten über den Lehrbüchern ...". Ihr Wissensdurst ist bisweilen sogar stärker als die Sorge um die Gesundheit: "Ich sog die Informationen auf, als seien sie Luft".
Der Grund dafür liegt in ihren Jugendjahren, die sie statt in der Schule im Bett verbringen mußte. Erst nach drei Jahren, ohne das Studium abgeschlossen zu haben, kehrt sie nach Polen zurück. Nicht, weil sie keine Chance hätte, zu bleiben - ihr werden sogar weitere Stipendien angeboten -, sondern weil ihr Heimweh sie zur Rückkehr zwingt. Doch die Liebe zu Polen ist nicht die einzige, die sie im wahrsten Sinne des Wortes lebt. Sie liebt oft und stark. Mit achtzehn heiratet sie einen Mann, der ebenfalls schwer herzkrank ist und schon nach zwei Jahren plötzlich stirbt. Sie liebt, ohne es zu wissen, verheiratete Männer wie den Professor an der amerikanischen Universität. Und allem Liebeskummer zum Trotz liebt und lebt sie weiter, mehr noch - immer und immer wieder findet sie in der Liebe die Rettung: "Die Liebe wurde zu meiner Verbündeten. Sie verlieh mir Mut und Geduld". In den letzten Zeilen des Romans lesen wir: "Ich höre das Rauschen des schäumenden Wassers, und ich fühle, wie in meiner Brust der empfindlichste aller Zeitmesser vorsichtig schlägt - das Herz. ... Lausche, mein Freund, all diese Blätter sind nichts als sein Rhythmus."
Das Werk Poswiatowskas ist tatsächlich ein nach dem Rhythmus ihres Herzens geschriebenes Buch. Ihr "empfindlichster aller Zeitmesser" hörte bald nach dem Erscheinen des Romans auf zu schlagen: Mit nur 32 Jahren starb die Autorin bei einer erneuten Operation in Warschau. In ihrem einzigen Roman hat Halina Poswiatowska ihren Leidensweg im Schatten der Krankheit und ihren unstillbaren Drang zum Leben beschrieben. Sie wollte aber auch verständlich machen, daß sie in Amerika bleiben mußte, um sich selbst zu finden und um sich zu vergewissern, daß auch ihre Träume in Erfüllung gehen könnten. Viele ihrer Freunde in Polen haben diesen Schritt nicht verstanden und warfen ihr Verrat vor. Deshalb schwieg sie nicht, wollte wenigstens dem engsten Freund ihre Motive erklären.
Wenn sie gleich auf der ersten Seite schreibt: "Ich weiß, daß du mit großer Geduld zuhören wirst", dann meint sie nicht nur den Freund, sondern auch alle übrigen Leser. Ihre Sprache ist so fließend, das Erzählte so packend dargestellt, selbst wenn es fast alltäglich ist, daß man von dem Buch nicht wegkommt, ehe man es bis zur letzten Zeile gelesen hat. Jahrelang war Halina Poswiatowska vergessen, inzwischen aber ist sie "in ihrer Heimat bereits zum Mythos geworden", wie im Börsenblatt Nr. 82 vom 13. Oktober 2000 zu lesen war. Zu Recht, denn ihre positive Einstellung zum Leben, die sie sich stets bewahrt hat, kann auch heute ansteckend wirken.

 

 

 

 

Halina Poswiatowska
"Erzählung für einen Freund"


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