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POLONICA
Polnische Literatur in Deutschland 1990 - 2000

Hundert Jahre Prosa

POLSKIE PASAZE. POLNISCHE PASSAGEN. Anthologie; Prosa aus hundert Jahren. Hrsg. von Kristof Wachinger, übersetzt von Karl Dedecius. Zweisprachig polnisch-deutsch. Dtv, München 2000.

Polnische Passagen ist eine kleine Anthologie polnischer Prosa des 20. Jahrhunderts, entstanden in Anlehnung an die vom Amman-Verlag edierte Reihe Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Ungewöhnlich daran ist, daß sämtliche Übersetzungen von Karl Dedecius (geb. 1921) stammen. Der große Vermittler und Botschafter polnischer Literatur hat sich zeitlebens der Übertragung von Lyrik gewidmet, Übersetzungen von Prosawerken sind für ihn nach eigener Auskunft nur ‚Intermezzi', kleine Denkpausen in der Welt der Poesie. Daß er auch mit Prosa souverän umzugehen versteht, dafür liefert dieser Band den besten Beweis.
Eine weitere Besonderheit des Taschenbuchs ist seine Zweisprachigkeit, die bei deutschen Verlagen eher selten anzutreffen ist. Der dtv erläutert seine Entscheidung wie folgt: "Dieses Buch soll Deutschen, die polnisch lernen, das Einlesen in die polnische Literatur erleichtern. Es ist aber auch gedacht als ein Gruß an polnische Gastgeber und Gäste: ein Zeichen, daß wir verstehen wollen, wer sie sind". Zum Verstehen gelangt man zumindest teilweise bei der Lektüre der Anthologie, die chronologisch geordnet ist und den Leser mit den verschiedensten Geschehnissen aus der Sicht der Schriftsteller bekanntmacht. Damit bietet dieser Band zugleich eine kleine Lektion in polnischer Geschichte und Kultur.
Man findet hier ganze Erzählungen, aber auch Ausschnitte aus umfangreichen Romanen wie der großen Familiensaga von Maria Dabrowska, Noce i dnie [Nächte und Tage]. Drei Prosaminiaturen von Zofia Nalkowska, die humorvoll einige Charaktereigenschaften unter die Lupe nehmen, schließen sich an. Zu den dreizehn Autoren zählen Stanislaw Ignacy Witkiewicz, eine der schillerndsten Persönlichkeiten der ersten Hälfte des Jahrhunderts, und die nicht weniger interessante Gestalt von Stanislaw Grochowiak. Während letzterer sein schwieriges Dasein mit der heißgeliebten, vom Holocaust-Trauma verfolgten jüdischen Frau beschreibt, greift Józef Mackiewicz die Deportationen der polnischen Bevölkerung aus Wilna und die Verbrechen der Geheimdienste auf.

Bogdan Wojdowski, ein Pole jüdischer Abstammung, der das Ghetto mit zwölf Jahren überlebte, schrieb sich sein Leiden mit einer Erzählung von dem Mädchen namens "Belcia vom Grenzstreifen, das in den letzten Tagen seines Lebens einen stummen Vogel in die Freiheit fliegen ließ" vom Leibe.
Die Nachkriegszeit bleibt natürlich nicht ausgespart. Ob die Liebe zu einer unannehmbaren Frau im Text von Jerzy Zawieyski, die rebellische Jugend in Wiktor Woroszylskis "Blitzaufnahmen aus einer chimärischen Welt" (so die bibliographische Verlagsnotiz) oder die von Julian Kowalec thematisierte schwierige Situation des polnischen Dorfes und die Problematik der im Sozialismus entstandenen Gesellschaftsklasse der Bauern, die in der Stadt ihr Glück suchten: Allen Erscheinungen der dramatischen neuen Zeit wollten die Autoren Gehör verschaffen. Dazu zählen auch die posttraumatischen Erinnerungen polnischer Emigranten von Kornel Filipowicz und die Beobachtungen aus dem Verbrechermilieu und der Subkultur der Warschauer Peripherie von Marek Nowakowski.
Jeder dieser Autoren verfügt über eine eigene Ausdrucksform, bedient sich einer eigenen Sprache. Lyrische Prosastücke sind ebenso vertreten wie an der Umgangssprache orientierte Texte.
Fast surrealistisch im Ausdruck, aber ganz realistisch in der Beschreibung der unter ständiger Bedrohung durch die kommunistischen Machthaber lebenden Menschen präsentiert sich Janusz Andermann, der letzte Autor in diesem Band. "Flugblätter", flüstert jemand, "er hat Flugblätter verteilt. Der Mann zieht los, der Junge folgt ihm widerwillig, ihre Arme straffen sich, nun sieht man, daß ihre Handgelenke mit Handschellen aneinander gefesselt sind", liest man in seinem Text ATEMLOS.

Mit dieser 1983 verfaßten Nahaufnahme polnischer Wirklichkeit in den siebziger und achtziger Jahren endet das Buch. Die Anthologie von Karl Dedecius ist das gelungene Beispiel einer literarisch ambitionierten Publikation, die zugleich tiefe Einblicke in das historische Umfeld bietet. Als nächste warten nun die neuen, nach der Wende von 1989 entstandenen Prosa-Texte auf ihre Entdeckung.

 

 

Karl Dedecius (Hrg.)
"Polskie pasaze. Polnische Passagen"
- Zweisprachig -


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