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POLONICA
Polnische Literatur in Deutschland 1990 - 2000

Obdach für einen Stein

Ryszard Krynicki: STEIN AUS DER NEUEN WELT. Gedichte. Übersetzt von Esther Kinsky. Rospo-Verlag, Hamburg 2000.

Ryszard Krynicki (geb. 1943) gehört zu den Hauptvertretern derjenigen polnischen Dichter, die, um 1945 geboren, im kommunistischen Polen sehr bald klarstellten, daß sie sich dem System von Lüge und Freiheitsberaubung nicht beugen würden. Sie hatten wie Urszula Koziol mit der Zensur zu kämpfen und wurden mit radikalen Druckverboten belegt. Mit einigen Mitstreitern gehörte Ryszard Krynicki der jungen "Gruppe 68" an, die auch unter dem Namen "Neue Welle" bekannt wurde. Mit Adam Zagajewski und Stanislaw Baranczak, mit dem er die Posener Dichter-Gruppe "Próby" ["Die Versuche"] gegründet hat, wird er in einem Atemzug genannt, doch zeigt sein Werk auch andere, nur für ihn typische Eigenschaften. Der allgegenwärtigen kommunistischen Propaganda, die sich in Presse und veröffentlichter Meinung niederschlägt, stellen die Angehörigen der Gruppe eine Sprache der politischen Klarheit und Wahrheit entgegen.
In einem seiner zensierten Poesiebände von 1989, NIEPODLEGLI NICOSCI [DIE DER NICHTIGKEIT NICHT UNTERWORFENEN ] schreibt Krynicki im Nachwort: "... ich bemühte mich, meine Fehler in der Kunst zu korrigieren, um so präzise wie möglich das zu sagen, was mir zu sagen gestattet war." Eine solche ‚Kunst' mußten viele Autoren im kommunistischen Polen sich aneignen. Krynicki lernte in verdichteten, konzentrierten Sätzen all das zum Ausdruck zu bringen, was zu sagen eigentlich nicht erlaubt war. So lesen wir im selben Nachwort: "Ich sollte vielleicht noch hinzufügen, daß die Sammlung NIEPODLEGLI NICOSCI [eigentlich] etwas mehr Gedichte und Übersetzungen, als hier untergebracht, enthält. Ich hoffe aber, daß auch ihre Zeit noch kommt".
Diese Zeit, in der der Autor sich frei ausdrücken darf, ist mit der Wende von 1989 gekommen. Nun kann man sich bei der Zusammenstellung der Gedichtbände an anderen Kriterien orientieren. Auch in Deutschland ist inzwischen das Interesse an der Dichtung Krynickis so stark gewachsen, daß einfaches Zitieren in verschiedenen Anthologien nicht mehr ausreicht. Die erste Ausgabe mit Gedichten Ryszard Krynickis publizierte 1991 Karl Dedecius unter dem Titel Wunde der Wahrheit im Suhrkamp-Verlag.
Die zweite deutschsprachige Werkausgabe erschien heuer beim Rospo-Verlag und ist als Ergänzung zum früheren Band zu verstehen. Im Programmheft heißt es dazu: "Nun erscheint nach langen Jahren .... wieder ein Gedichtband, der ältere, bislang unübersetzte und neueste Gedichte vorstellt. Mit einer kontrapunktischen Zusammenstellung nimmt STEIN AUS DER NEUEN WELT eine ganz besondere Akzentuierung vor: Sie lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die existentialphilosophische Fragestellung im Werk von Ryszard Krynicki, die für seine Lyrik mindestens ebenso sehr von Bedeutung ist wie das politisch-gesellschaftliche Engagement."
Letzteres kommt aber auch in diesem Band zu Wort, etwa in den drei kurzen Versen: Den Ärmsten dieser Welt / erspart die Schwerarbeit / nicht einmal das Sterben. Als Beispiel für die Knappheit von Krynickis Diktion sei hier noch das zweizeilige Gedicht ES GIBT WORTE zitiert, das seinen Rahmen um ein Mehrfaches sprengt: "Es gibt Worte, die im Munde wachsend / allein nach unsrem Blute lechzen".
Die jüdische Thematik ist Krynicki als scharfem Beobachter der Gesellschaft nicht fremd. Die verschwundenen Zeugnisse der Vergangenheit, die er in seiner Dichtung zu retten versucht, haben es ihm besonders angetan. Vom Schicksal eines nicht mehr existierenden jüdischen Friedhofs berichtet er in dem kleinen Prosatext STEIN AUS DER NEUEN WELT: "Erst als ich ihn umdrehte, zeigte sich, daß diese schwere runde Sandsteinscheibe, die wie der obere Teil eines Mahlsteins, wie ein Schleifstein oder ein Brunnendeckel aussah, aus einem alten jüdischen Grabstein geschnitten worden war ..." Der Autor verzweifelt über der Unmöglichkeit, einen angemessenen Platz für diesen stummen Zeugen der Vergangenheit zu finden: "... Ich will ihn nur vor weiterer Zerstörung bewahren, ich suche ein Obdach für ihn, das dauerhafter ist als meine brüchigen Buchstaben. ...". Fast unmerklich gibt hier Krynicki seine Bewertung der eigenen Dichtung preis. Oder ist es die leise Sorge um das Schicksal seiner Werke, denen vielleicht etwas Ähnliches wie dem jüdischen Friedhof wiederfahren könnte? Das Vergessen kann auch viel stabileren Beweisen einer Kultur zu langsamem aber sicherem Verfall ‚verhelfen'.
Die Dichtung Ryszard Krynickis läuft in Polen immer noch Gefahr, nicht richtig anerkannt zu werden. Die jahrzehntelange Unterdrückung wirkt immer noch nach und hat oft genug Unwissenheit und Vergessen zur Folge. Wie zum Trotz scheint Krynicki sich in seinen Gedichten an eigene Erinnerungen zu halten; seine Kindheit und auch die späteren Jahre inspirieren ihn zu neuen Texten.
Er arbeitet dabei die vergangene Zeit nicht detailliert aus, sondern deutet sie nur leicht an, zum Beispiel in dem lyrischen Prosatext DAS GESICHT, der zugleich eine andere Erinnerung - an die frühere Geschichte einer Stadt - hervorruft: "Die ganze Kindheit über ließ es mich nicht zur Ruhe kommen in meinem einst von Deutschen bewohnten Elternhaus mit dem hellblauen Schriftzug SICH REGEN, BRINGT SEGEN, der auf den Kacheln über dem Küchenherd prangte und den mir selbst mein wundersam wiedergefundener Vater nicht übersetzen konnte. Das Gesicht." Die Folgen des Krieges blieben an der Nachkriegsgeneration haften und kehren deshalb in der polnischen Dichtung unserer Zeit immer wieder.
Auch für diesen Autor spielt das Thema Liebe eine Rolle. Es sind keine Liebesgedichte im klassischen Sinn, keine direkten Erklärungen der Gefühle, sondern in ihnen offenbart sich eine leise, fast auf Umwegen beschriebene Sinnlichkeit: "Es öffnen sich alte Wunden der Liebe, / Engel der Trennung, mein Schutz / - Du bist es? Laß dich, du Liebe, doch nieder. / Bleibe. - Für immer? // Für länger". Noch zartere Töne findet er in einem anderen, unbetitelten Gedicht: "Wir wohnen Haut an Haut / zu nah, uns noch zu nähern. / wir wohnen Haut an Haut / zu fern, um von Trennung zu sprechen / wir wohnen / Haut an Haut durch unseren Blick". Das Hin und Her der Gefühle, das Unsichere, Unaussprechliche, spielt in der polnischen Poesie eine besonders wichtige Rolle, und auch Krynicki folgt diesem Weg. Nur einige Seiten früher lesen wir: "... doch bevor du die Tür hinter dir schließt / wirf den Kamm nur den Kamm dort hinter dich / und laß einen Wald sich zwischen uns stellen."
Starke Emotionalität und ausgeprägte Vorstellungskraft charakterisieren den Dichter Ryszard Krynicki. Der Leser findet in seinen Texten aber auch eine gehörige Portion an Selbstironie, einem für polnische Schriftsteller nicht ungewöhnlichen Ausdrucksmittel.
In seiner klaren Sprache verwendet Krynicki oft Schlüsselworte, die eine knappe Form der Texte erlauben; sie bilden dann das Skelett der Gedichte, wie an einem Gerüst ranken sich die Sätze an ihnen empor. Auch umgangssprachliche und altbekannte, aber in neuem Kontext verwendete Redewendungen findet man bei ihm. Als Vertreter der ‚linguistischen Richtung' in der "Neuen Welle" spielt er gern mit der Zusammensetzung phonetisch ähnlicher Worte, deren gemeinsamer Klang manchmal wichtiger zu sein scheint als der Sinn, den sie in sich tragen. Das erschwert natürlich die Übersetzung, was Esther Kinsky jedoch mit Bravour zu lösen weiß.
Ryszard Krynicki, dessen Lesung aus eigenen Werken zu den Highlights der Siegener Ausstellung zählt, gehört zweifellos zu den besten Sprachkünstlern, die seit den sechziger und siebziger Jahren in Polen hervorgetreten sind. Er ist auch einer der Autoren, die hierzulande noch relativ wenig bekannt sind und denen hoffentlich in den nächsten Jahren mehr Gehör geschenkt werden wird. Sie haben uns noch viel zu sagen, denn auch die heutige politisch-gesellschaftliche Entwicklung Europas bietet ausreichend Stoff für gute Dichtung.

 

 

 

 

 

 

 

Ryszard Krynicki
"Stein aus der Neuen Welt" - Gedichte


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