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POLONICA
Polnische Literatur in Deutschland 1990 - 2000

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Der Urgroßvater aus dem Weißen Stein

Anna Bolecka: DER WEIßE STEIN. [Bialy kamien]. Roman. Übersetzt von Albrecht Lempp. Berlin-Verlag, Berlin 1998.

Ihr erstes Buch FLUCHT IN DEN HIMMEL [LEC DO NIEBA] schrieb die 1951 geborene Anna Bolecka vor vierzehn Jahren. Ihr zweiter Roman DER WEIßE STEIN von 1994, für den sie den Wladyslaw-Reymont-Preis erhielt, führt zwei Welten zusammen: Als gäbe es keine Vergangenheit, kehrt die Erzählerin in die Gegenwart ihres Urgroßvaters zurück und erforscht das Leben ihrer Vorfahren. Eindringlich, bis in den letzten Winkel des Unterbewußtseins, beschreibt sie das Leben des Urgroßvaters, das von seiner Liebe zur Ukrainerin Podolanka, die "über geheime Heilkräfte verfügte" bestimmt war, einer Liebe, die für die beiden verboten blieb. Von seiner Familie, die ihn als Säugling in einem Graben fand, wird er mit einer anderen Frau verheiratet. Doch auch als er Vater wird, steckt die Podolanka "tief in ihm wie eine Pflanze, die auf Sonne und Regen wartet, um aufzublühen". Als seine Enkel, die er Generale nennt, herangewachsen sind und er schon alt und dem Tod nahe ist, kommt die geliebte Frau in seinen eigenartigen Träumen zurück: "Die Augenblicke, in denen sich die Wirklichkeit mit Schlaf und Traumbildern füllte, wiederholten sich immer öfter."
Boleckas Sprache übt eine nicht weniger magische und anziehende Kraft auf den Leser aus wie die Ukrainerin auf den Urgroßvater der Erzählerin. Selbst ein so altes Thema wie die Liebe, das ständig und von allen Seiten von der Literatur beleuchtet wird, vermag Bolecka neu zu deuten und ihm somit neue Kraft zu geben. Das folgende Zitat ist nur ein Beispiel dafür: "Urgroßvater war der erste, den sie beim Heilen berührte. Er erinnerte sich, wie er die Augen aufgeschlagen und sie direkt angesehen hatte. Sie senkte den Blick nicht, ihre Hände zitterten leicht, und er holte tief Luft und spürte seine nackten Füße wie zwei atmende Organismen, die ein eigenes Leben lebten. Er trat kräftig auf, und es schien ihm, daß er die Bewegungen der kleinen Nagetiere spürte, die in der Erde ihre Gänge gruben". Aber der Leser erfährt aus dem Buch auch die Atmosphäre des polnischen und jüdischen Lebens vor dem zweiten Weltkrieg, das sich im Mikrokosmos des Städtchens DER WEIßE STEIN abspielt, und wird zugleich auf eine Reise durch vier Generationen geführt.
Anisja, die Schwiegertochter des Urgroßvaters, und sein kleiner Enkel, der spätere Vater der Erzählerin, spielen dabei eine besondere Rolle: Sie sind Bindeglieder zwischen dem Urgroßvater und seiner Urenkelin, die Jahre nach seinem Tod auf die Welt kam. Anna Bolecka wird mit Hanna Krall verglichen und von dieser als eine Schriftstellerin gelobt, deren "Kunst zu schreiben" die verlorengegangene Welt Vorkriegspolens "einen Augenblick wieder ins Leben ruft".

 



Anna Bolecka
"Der Weiße Stein"


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