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POLONICA
Polnische Literatur in Deutschland 1990 - 2000

 

Tamerlan und Attila vom Westen her betrachtet

Andrzej Bobkowski: WEHMUT? WONACH ZUM TEUFEL? [Szkice piórkiem]. Tagebuch, Band I. Übersetzt von Martin Pollack. Rospo-Verlag, Hamburg 2000.Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand. [Pamietnik z powstania Warszawskiego]. Roman. Übersetzt von Esther Kinsky. Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1994.

Tagebücher spielen in der polnischen Literatur eine wichtige Rolle. Sie sind lebendige Dokumente der Zeit und Beweise für die Bindung ihrer Autoren an die Wirklichkeit. Andrzej Bobkowski (1913-1961) gehört zu den bedeutendsten polnischen Schriftstellern der Kriegsgeneration, die sich der persönlichen, knappen und zugleich prägnanten Gattung der Tagebücher bedienten. Von 1938 bis 1948 lebte er in Paris und gewann dadurch den Blick auf die Geschehnisse des zweiten Weltkriegs von einer etwas anderen Seite. Die Besetzung Frankreichs durch die deutschen Truppen wurde zu seinem Thema. Das von einer Ausnahmesituation bestimmte Alltagsleben von Franzosen, Deutschen und Polen im selben Land spiegelt sich in den Berichten Bobkowskis wieder. Fast täglich schreibt er mal in kürzeren, mal in längeren Berichten seine Erfahrungen und Überlegungen nieder. Dabei weiht er den Leser in scheinbare Belanglosigkeiten genauso ein wie in die politische Problematik. Oft wird er bei der letzteren mißtrauisch und kritisch. Auch vom Philosophieren schreckt er nicht zurück:
"Ich bin nicht sicher, ob die KULTUR nicht auch ein sanfter Verlauf gewisser ethischer und moralischer Krankheiten ist. Krankheiten, die jedem Menschen und jedem Volk angeboren sind, deren Entwicklung bloß vom ökonomischen Klima abhängt."
Der Leser wird bei der Lektüre von Bobkowskis Tagebüchern öfters mit Verblüffung feststellen, daß es der heutigen Welt an ähnlichen Problemen und Fragestellungen nicht fehlt. Der Autor kann aber auch poetisch schreiben, besonders wenn er das andere Geschlecht zum Thema hat wie im folgenden Zitat: "Ein paar Frauen flanieren über die Promenade. Sie sind wie Rosen im Wind: Sie neigen sich, die Blätter ihrer Kleider flattern und werden gebauscht. Und erst wenn sie vorbei sind, weht ihr Duft zu uns her. Frauen sollte man sich eigentlich gegen den Wind nähern." Gelegentlich zeigt Bobkowski Anflüge von Humor, um dann aber schnell wieder ernst zu werden. Am 1. September 1941 schreibt er: "Der zweite Jahrestag des Ausbruchs dieses Krieges. Ich kann es gar nicht glauben. Es ist mir gelungen, es ist mir gelungen, zu überleben", und berichtet dann vom Glück des Überlebens, das er selber nicht verstehen kann.
Die SZKICE PIÓRKIEM, die voll von solchen Stimmungswandlungen sind, erschienen 1957 in Frankreich, nicht in Polen. Bobkowski kritisierte darin nicht nur die Deutschen und die Alliierten, sondern auch die Sowjetunion, was den Lektoren im kommunistischen Nachkriegspolen nicht geheuer war. Erstaunlich die Weitsicht des Autors, der schon am letzten Tag des Jahres 1941 schrieb: "Entweder bricht Deutschland in diesem Jahr zusammen und der Krieg tritt in seine Endphase ein, oder die Geschichte zieht sich noch zwei Jahre hin. Wenn Russland Deutschland schlägt, beginnt ein neues Drama - der Bolschewismus in Polen, sowjetische Okkupation und, wer weiß, vielleicht der Bolschewismus in Europa. ... Tamerlan schlägt Attila - das ist schlecht; Attila schlägt Tamerlan - auch schlecht."
Seine oppositionelle Haltung ließ Bobkowski zu einem der wichtigsten, aber auch in Polen lange verkannten und als ‚Geheimtip' geltenden Exilschriftsteller werden. Seine (Neu-)Entdeckung wird mit dem Erscheinen des zweiten Bands der Tagebücher sicherlich gefördert.

 

 

 


Andrzej Bobkowski
"Wehmut? Wonach zum Teufel?"


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